Im August wurde vom WDR eine Dokumentation von der Filmemacherin Nicole Rosenbach herausgebracht, die sich mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff beschäftigt und ihm sehr schwere Vorwürfe macht. Ich muss zugeben, dass ich ein Fan Winterhoffs bin, denn er hat vor über 10 Jahren eine m. M. geniale Theorie, im eigentlichen Sinne des Wortes Genius – nämlich eigenständig, schöpferisch -, geschaffen, mit seinem Buch: „Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder die Abschaffung der Kindheit“. Ich persönlich schätze die Originalität und den Scharfsinn der dort geschilderten Theorien, die versuchen das Phänomen der Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in den letzten Jahrzehnten zu erklären, von denen viele Lehrer, Eltern und Therapeuten berichten. Dass z. B. im Unterricht geschwatzt wird, mancher Schüler provozierende Antworten gibt oder es in den Pausen auch mal zu Prügeleien kommt, war auch früher schon normal. Aber seit 20-30 Jahren wird vermehrt von einer starken Zunahme von Konzentrationsschwierigkeiten der Kinder, geringer Frustrationstoleranz, Schülern die permanent laut und unfähig zur Selbstkontrolle sind, im Unterricht oft schlafen oder anderen zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten berichtet, in einer Klassenatmosphäre, die oft eher an einen Ameisenhaufen anstatt an einen guten Unterricht erinnert. Eltern und Lehrer stehen diesen Problemen oft hilflos entgegen. Einen interessanten Bericht eines Lehrers der sich mit dieser Problematik und den Thesen Winterhoffs auch kritisch auseinandersetzt, können Sie z. B. hier lesen.
Man kann natürlich die Thesen Winterhoffs kritisieren, die Wortwahl zu drastisch finden, die Kinder pauschal abwertet und einen Versuch darin sehen, autoritäre Erziehung wieder salonfähig zu machen. Andererseits würde man damit jedoch m. M. vorschnell urteilen, denn Winterhoff gibt nicht den Kindern die Schuld, sondern den Eltern und den teilweise fragwürdigen Werten unsere Gesellschaft. Damit ist er von Anfang an auf Kritik gestoßen, größtenteils von Journalisten und weniger von Fachleuten, was seinem Erfolg jedoch keinen Abbruch tat. Es soll hier aber nicht um die Bewertung der Theorien Michael Winterhoffs gehen, sondern eher um die Dokumentation des WDR, die nun sehr schwere Vorwürfe gegen ihn erhebt, bei gleichzeitig dünner Faktenlage und dem starken Einsatz von filmerischen Stilmitteln, die darauf ausgerichtet zu sein scheinen, beim Zuschauer einen bestimmten, sehr negativen Eindruck Winterhoffs zu erzeugen. Neudeutsch nennt man das bewusste Einsetzen von Bild, Wort und Ton um einen gewünschten Eindruck zu erzeugen auch Framing, abgeleitet vom englischen Wort Frame, zu dt. Rahmen, also etwas in den „richtigen“ Rahmen setzen. Der WDR-Beitrag ist ein Lehrbeispiel über Framing und als Schlussfolgerung daraus, die Wichtigkeit von Medienkompetenz in unseren heutigen, von Informationen überfluteten Medienwelt, die unabdingbar ist, um sich in diesem Dschungel der Informationen und den dahinter stehenden Interessen und Motiven eine selbstständige und freie Meinungsbildung bewahren zu können.
Die Doku nennt sich „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ und beginnt mit dem Satz: „Wir Medien haben ihn groß gemacht“. Schon diese Eingangssätze bieten tiefenpsychologisch enorm viel Ansatzpunkte für analytische Spekulationen. Ich verwende hier bewusst das Wort Spekulationen, um dem Leser zu verdeutlichen, dass ich an dieser Stelle selbst spekuliere und es sich nicht um bewiesene Feststellungen handelt. Der Titel zeigt, dass man sich scheinbar schon an der Aussage Winterhoffs, dass Kinder Tyrannen seien, stark gerieben hat. Man könnte damit vermuten, dass Winterhoff durch seine Thesen schon immer den Machern des Filmes ein „Dorn im Auge“ war. Noch ergiebiger ist jedoch „Wir Medien haben ihn groß gemacht“. Ironischerweise könnte man hier einen Narzissmus der Medien hinein interpretieren, die die Menschen erst groß machen, ähnlich wie die Mutter in der symbiotischen Beziehung das Kind, die Winterhoff in seinen Theorien beschreibt und deren Nichtauflösung er als eine Ursache vieler Verhaltenstörungen sieht. Dass zum Großwerden des Autors auch seine Bücher erst einmal notwendig waren, scheint in diesem Narzissmus übersehen zu werden, so wie auch der Narzisst alles andere als die eigene Sicht ausblendet. Dass sich der Narzissmus der Medien wiederum an einer kritischen Theorie über einen zunehmenden Narzissmus in unserer Gesellschaft reibt, ist daher tiefenpsychologisch fast schon logisch. Aber ich möchte in diesem Beitrag bewusst kein Framing betreiben (obwohl ich es schon betrieben habe und beim Leser damit schon einen gewissen Eindruck hinterlassen habe), sondern mich rein an die Fakten halten und vor allem versuchen, Sie als Leser für Framing und Medienkompetenz anhand dieses WDR Filmes zu sensibilisieren.
Seit einigen Tagen ist auf dem Wikipedia Eintrag Michael Winterhoffs u. a. zu lesen, dass der WDR Film „zahlreiche“ Fälle „fragwürdiger“ Diagnosen aufzeigt, die zu seinen Positionen passen, aber medizinisch nicht haltbar zu sein scheinen. Weiterhin wird ihm vorgeworfen unsachgemäß schwere Beruhigungsmittel verordnet zu haben und in den letzten Minuten des Filmes erreicht die Schwere der Vorwürfe ihren Höhepunkt, indem von befremdlichen Genitaluntersuchungen an Kindern berichtet wird. Es wird auf Wikipedia richtigerweise konsequent der Konjunktiv verwendet, z. B. „sein scheinen“, eine Konsequenz die der WDR Film etwas vermissen lässt, denn dem Film mangelt es an belegbaren Beweisen. So beschränken sich die „zahlreichen“ Fälle auf knapp zehn Fälle (von zehntausenden Behandelten), wobei in zweien von den „befremdlichen Behandlungsweisen“ mit Manipulationen der Genitalien von männlichen Betroffenen berichtet wird, sieben Fälle die die teilweise jahrelange Anwendung eines niederpotenten, atypischen Neuroleptikums an Kindern anprangern und in zwei Fällen eine falsche oder unseriöse Diagnosestellung in der Kritik steht (in einem Fall wird Diagnose UND Medikament kritisiert). Außerdem suggeriert der Film, dass dieses „System“ Winterhoff in zahlreichen Jugendeinrichtungen, wo er als ärztlicher Betreuer tätig ist, hunderte Kinder mit diesen Methoden drangsaliert hat und Eltern die das kritisieren, mit Entziehung des Sorgerechts gedroht wird.
Die erste Anschuldigung der merkwürdigen Untersuchungspraktik des Genitals (bei der im Kopf des Zuschauers des Films unwillkürlich Assoziationen von sexuellem Missbrauch bei Kindern in Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses entstehen, aber niemals von den Machern so benannt wird, wahrscheinlich um sich vor Klagen wegen Verleumdung zu schützen), wird von einem ehemaligen Patienten berichtet, die vor 24 Jahren stattgefunden haben soll. Ich kann mir natürlich kein Urteil über die Behandlungspraktiken von Winterhoff erlauben, da ich sie nicht kenne. Wenn diese Vorwürfe gerechtfertigt wären, dann wären sie aufs Schärfste zu verurteilen. Wenn sie aber nicht gerechtfertigt sind, dann wäre die Berichterstattung des WDR genauso aufs Schärfste zu verurteilen, denn solche Anschuldigungen zerstören Existenzen. Diese Überlegungen sollte sich eigentlich der WDR vor der Produktion des Films stellen und dementsprechend gründlich vorgehen. Jedoch bleiben die Anschuldigungen im Vagen, wenn das Problem nicht mal beim Namen benannt werden kann. Winterhoff selbst schreibt in einer Stellungnahme auf seiner Webseite dazu, dass eine körperliche Untersuchung Voraussetzung einer psychiatrischen Behandlung ist, was jedem Experten bekannt sein dürfte. Die zweite Anschuldigung von einem anderen Patienten ist 12 Jahre her. Winterhoff behandelt also seit Jahrzehnten Kinder an verschiedenen Einrichtungen. Man kann somit davon ausgehen, dass er tausende, wahrscheinlich eher zehntausende Kinder behandelt hat. Insofern ist die Einordnung dieser zweier Fälle behaupteter, befremdlicher Untersuchungspraktiken eher schwierig, zumal jeder Psychiater und Psychologe die, wenn auch wenigen, dennoch sehr schwierigen Patienten z. B. mit schweren Persönlichkeitsstörungen kennt, die auch unter dem Eindruck verzerrter Wahrnehmung einer Situation gestanden haben können.
Um diese schweren Vorwürfe aber auch die anderen Vorwürfe zu bestätigen, müssten tatsächlich zahlreiche klare Fälle vorliegen, aber der WDR liefert eine Doku mit zwei Fällen berichteter merkwürdiger Genitaluntersuchungen, zwei Fällen einer beanstandenden falschen Diagnose und sieben Fällen einer unsachgemäßen Anwendung eines Medikamentes von wahrscheinlich insgesamt zehntausenden durch den Psychiater behandelnden Patienten und beschreibt das als das „System“ Winterhoff. Auch wenn im Film gesagt wird, dass mehr Erfahrungsberichte recherchiert wurden, als im Film thematisiert werden, ändert das an der Beweiskraft nichts, denn ein nicht vorgezeigter Beweis ist kein Beweis. Es ist von daher immer bei der Bewertung medialer Informationen wichtig die Sachverhalte in Relation zu setzen. Was ist die Aussage, mit welchen Beweisen wird diese belegt, wie verhalten diese sich im Gesamtzusammenhang und welche alternativen Erklärungen könnte es geben.
Widmen wir uns den falschen und immer selben Diagnosen, die Winterhoffs Theorien scheinbar bestätigen. In dem Film wird von zwei Eltern beklagt, dass ihre Kinder die Diagnose „Entwicklungsretardierung mit frühkindlichem Narzissmus“ erhielten, in den Krankenakten aber ganz andere Diagnosen, z. B. ADHS auftauchten, die Winterhoff in den Gesprächen den Eltern gegenüber teilweise sogar verneinte. Damit die Krankenkasse die Behandlung bezahlt, muss der Therapeut eine psychische Störung nach Codierung des ICD10 angeben. Deshalb ist es in der psychotherapeutischen Praxis oftmals gang und gäbe, dass Diagnosen “gefunden” werden müssen. Dabei ist es jedoch nicht so, dass die Patienten keine Störungen haben und sich Krankheiten “ausgedacht” werden, sondern vielmehr sind die psychischen Beschwerden manchmal vor allem zu Beginn einer Behandlung schwer eindeutig zu diagnostizieren und deshalb wird in solchen Fällen vermehrt ein gängiger, gut passender Krankheits-Code gewählt. Darüber hinaus sieht ein Tiefenpsychologe wie Winterhoff das Symptom nur als Ausdruck eines tiefer liegenden Konfliktes, dem sich gewidmet werden muss. So kann es also durchaus sein, dass er den Eltern als Diagnose den Entwicklungsrückstand im frühkindlichen Narzissmus nennt, bei dem das Kind noch nicht gelernt hat, die unmittelbare Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Lust im Kontext der Realität zu kontrollieren, was z. B. zu Frustration und Wut führen kann. Da diese jedoch keine ICD10 Diagnose darstellt, obwohl sie vielleicht für eine erfolgreiche Therapie aus tiefenpsychologischer Sicht sogar aussagekräftiger sein könnte, wird eine gängige Diagnose z. B. ADHS im Kassenantrag für die Behandlung eingetragen. Dieser Punkt ist vielen Außenstehenden nicht bekannt, könnte aber die Diskrepanzen zwischen den Diagnosen erklären. Interessanter Weise dürfte diese Praxis aber den zwei zu diesem Punkt von der Filmemacherin zugezogenen Experten bekannt sein. Diese machen jedoch die formal nicht angreifbaren Aussagen, dass solche Diagnosen nicht existieren, aber in einer Weise, die Winterhoff als komplett schalartanhaft, inkompetent und fast schon wirr darstellen. Die Krönung bildet aber die Aussage Prof. Schulte-Markworts, der den Begriff der narzisstischen Persönlichkeitsstörung einbringt, den Winterhoff nie verwendet, und damit bewusst irreführend die Kompetenz Winterhoffs angreift, indem er diesem unterstellt, dass er bei Kindern eine narzisstische PS diagnostizieren würde, was einem absolutem Fauxpas in der Psychiatrie darstellen würde. Das ist entweder Folge völliger Unkenntnis dieses Professors zu den Theorien des primären Narzissmus bei Freud und Mahler oder bewusste Absicht einen unliebsamen Kollegen als besonders unglaubwürdig darzustellen. Letzteres muss man fast annehmen, da Theorien zu symbiotischen Beziehungen und primären Narzissmus wenn auch nicht gängige Lehrmeinung der modernen Psychiatrie dennoch weit verbreitet speziell in den tiefenpsychologischen Schulen sind, sodass auch ein Psychiater der diese Richtungen nicht praktiziert, diese kennen müsste. Dennoch muss man auch festhalten, dass es durchaus möglich ist, dass Herr Winterhoff so sehr in seinen Theorien fixiert ist, dass er sie „überall“ sieht, nur sind die wenigen Fälle des WDR Films dafür keine Beweise. Vorallem wären sie selbst dann kein Anlass dafür, dass dieser erfolgreiche und bekannte Mann in seinem Ansehen derart massiv geschädigt wird, wie es dieser Film tut.
Schwerer wiegt die im Film angeprangerte unsachgemäße Behandlung mit den Medikamenten Pipamperon und dem ähnlichen Dipiperon. Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich Gegner einer vorschnellen Medikamentierung bin, erst recht bei Kindern. Wir wissen allerdings nicht, welche Symptomatik die sieben in dem Film vorgestellten Kinder hatten, die das Medikament jahrelang, in einem Fall sogar zehn Jahre, bekamen. Ich bin kein Arzt und kann nur wiedergeben, was allgemein über dieses Medikament bekannt ist. Winterhoff schreibt in seiner Stellungnahme, dass die Verwendung des Medikamentes üblich ist, auch im Off-Label-Use, also bei Symptomen für die es nicht vorrangig gedacht ist und Studien einen guten Behandlungserfolg zeigen. Obwohl in denen im Film dargestellten Fällen die Nebenwirkungen angeprangert werden, klingt scheinbar auch ein Erfolg der so Behandelten durch. Denn diese waren laut Aussagen der Eltern plötzlich „gefügig“ und ihr Leben nahm später eine positive Wendung, was mit Jetzt-Fotos der zufriedenen Kinder und glücklicher Musik im Film stilistisch in Szene gesetzt wurde. Nur wie viel das Medikament an der Überwindung von Wutanfällen und Verhaltensstörungen Anteil hatte, wissen wahrscheinlich weder die Betroffenen und erst recht nicht die Zuschauer des Films. Es wird vorgeworfen, dass das Medikament Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Gewichtszunahme verursachte und dennoch weiter von Winterhoff verschrieben wurde. Leider kommen Nebenwirkungen sehr häufig bei Psychopharmaka vor. Tatsächlich wird Pipamperon aber häufig verwendet, weil es im Gegensatz zu anderen vergleichsweise nebenwirkungsarm ist. Die Verschreibung von derartigen Neuroleptika nimmt seit Jahren unter Kindern zu. Laut einer Studie der Barmer von 2014 wurde 1 von 300 bei der Barmer versicherten Kindern Neuroleptika verschrieben, Tendenz steigend, wobei Pipamperon das zweithäufigste verschriebene Neuroleptika ist. Die Beschreibung des Herstellers spricht sich nicht gegen eine Langzeitanwendung aus, empfiehlt bei Kindern und Jugendlichen aber eine ständige Kontrolle und Beobachtung. Die im Film genannten Dosen lagen deutlich unter denen, die für Erwachsene angegeben werden. Viele Patienten berichten von der Nebenwirkung Müdigkeit, insofern ist diese Nebenwirkung nichts Außergewöhnliches. Auch ist schwer zu trennen, ob die Kinder wegen des Medikamentes in der Schule müde waren, oder aus anderen Gründen, wie viele andere Kinder, die kein Pipamperon bekommen. Auch der Fall der Gewichtszunahme ist nicht zweifelsfrei auf das Medikament zurückführbar, denn es kommt häufig vor, dass dünne Mädchen mit Eintritt in die Pubertät zunehmen. Mit diesen Recherchen und Überlegungen könnte sich eventuell doch ein anderes Bild ergeben, wie jenes eines Horror-Psychopharmakas, wie es der WDR Film mit allerlei Stilmitteln produziert. Zur unheilschwangeren Musik, werden fiktive, gemalte Bilder von Kindern gezeigt, die mit ihren Wasserbechern in der Hand und mit großen traurigen Augen, sich in die Reihe bei der allmorgendlichen Medikamentenausgabe im Heim anstellen müssen – Bilder wie man sie aus Filmen wie „Einer flog über`s Kuckucksnest“ kennt, aber eben mehr der Phantasie der Filmemacherin, als der Realität entsprechen. Dennoch muss ich an dieser Stelle wieder erwähnen, dass man die Verwendung dieses Medikamentes speziell über längere Zeit diskutieren kann und auch muss. Nur wissen wir durch den Film nicht, wie schwer die Symptome der dort vorgestellten Personen waren. Daran ändert sich auch nichts durch die Aussage des Leiters des DRK – Krankenhauses, der eines der Kinder behandelte und angab, dass „in der kurzen Zeit“ keine Anzeichen für eine psychische Störung ersichtlich wurden. Er hat die betreffende Person also nur kurz behandelt, zu den anderen Fällen liegen keine derartigen Aussagen vor. Es ist sehr wichtig, akribisch auf den genauen Wortlaut der Aussagen der zu Wort kommenden Personen zu achten. So sprechen auch andere Experten im Film explizit von: „aus meiner Sicht“, womit klar ist, das gerade in Bereichen in denen häufig unterschiedliche Ansichten vorkommen, wie z. B. in der Psychiatrie, diese derart vorsichtig eingeordnet werden müssen.
Als nächstes wird ein Netz von Jugendeinrichtungen aufgezeigt, die Winterhoff alle betreut und in denen diese vorher gezeigten, scheinbar unmenschlichen Praktiken jahrelang angewandt wurden und noch werden. Wichtigste Informationsquelle des WDR ist hier eine Erzieherin, die in verschiedenen Einrichtungen für die auch Winterhoff tätig ist, arbeitete. Diese wird verpixelt und warum sie als Erzieherin zufällig in verschiedenen Einrichtungen beschäftigt war, in denen auch Winterhoff zuständig war oder warum sie als Erzieherin die Medikation des Arztes beurteilen darf, wird im Film nicht klar. Weiterhin werden zwei Mütter dieser in den Heimen untergebrachten Kinder gezeigt, die die Medikation Winterhoffs kritisieren und wo seine Empfehlung laut der dem WDR vorliegenden, geheimen Akten lautete, das Sorgerecht zu entziehen. Auch hier wissen wir nicht wie stark die Symptomatiken der Kinder waren. Wir wissen aber, dass eine Medikation oft von den Angehörigen kritisiert wird, zu Recht aber auch oft zu unrecht. Wir wissen auch, dass diese Kinder im Heim waren, obwohl sie Eltern hatten, die scheinbar ihren Erziehungsauftrag und die Anforderungen des Kindeswohls nicht erfüllen konnten. In einem Fall war der Ehemann der offensichtlich geschiedenen Eltern für die Medikamentengabe. Insofern müssen auch die Ambitionen dieser Eltern im Kontext der Gesamtsituation gesehen werden. Ein Elternteil welches seinem Erziehungsauftrag nicht nachkommen konnte, kann nicht gleichzeitig als glaubwürdiger Gutachter einer eventuell falschen Behandlungsmethode dienen.
Es gibt noch weitere Stellen in der Doku, die man genau im Sinne einer Medienanalyse sezieren könnte, um den Unterschied zwischen vermitteltem Eindruck durch den Film und vorliegenden, klaren Fakten aufzuzeigen. Da wäre der neue Heimleiter „der aber zu Benjamin stand“, womit der Film den Eindruck erweckt, dass die alte Heimleitung Benjamin nichts Gutes wollte. Da wären die Filmaufnahmen von vergitterten (normalen) Fenstern an der “richtigen” Stelle in der Erzählung eines Betroffenen, als er von Kellern berichtet, in denen Intelligenztests stattfanden, die für sich betrachtet eigentlich nichts Schlimmes und etwas Übliches sind. Die Kinder, die erzählen, dass sie Winterhoff nur alle paar Monate sahen und dieser fragte, wie es ihnen gehe, auch eine übliche Praxis in der ambulanten Psychiatrie usw….Aber eine umfangreiche Analyse des gesamten Filmes würde eine Hausarbeit zum Thema Medienpsychologie füllen.
Ich persönlich kann nur hoffen, dass die Menschen im Gleichschritt mit der Zunahme der medialen Informationsflut gleichzeitig ihre Medienkompetenz weiterentwickeln, denn diese ist m. M. die Vorraussetzung eines selbstbestimmten, mündigen Bürgers. Allerdings befürchte ich, dass dieser Dschungel an bewusst und geschickt eingesetzten, emotional manipulierenden Informationen es den Menschen unmöglich macht, den Überblick zu behalten. Umso wichtiger ist es, dass man wenigsten die Grundlagen eines kompetenten Umgangs mit Medien sich beibehält. Wer möchte mir was und mit welchen Mitteln vermitteln? Was ist reiner, bewiesener Fakt und was ist inszeniertes Stilmittel, welches mit Bild, Ton und Trigger – Sätzen (also emotional manipulierenden Sätzen, die beim Menschen „anspringen“ sollen, nach dem deutschen Wort für Trigger – Schalter) nur einen Eindruck von etwas erzeugt, was möglicherweise erwünscht ist? Vorallem aber ist es aus meiner Sicht das Wichtigste, dass man sich auch immer wieder selbst hinterfragt. Bin ich bei diesem oder jenem Thema vielleicht schon so emotional hochgeschaukelt, dass mir einen neutrale, vorurteilsfreie Wahrnehmung gar nicht mehr gelingt? Könnte an der gegenteiligen Meinung auch etwas Berechtigtes dran sein, was ich in meinem emotionalen Eifer übersehe? Ich denke, noch nie waren diese Punkte so wichtig wie in unserer heutigen Welt, in der es bei immer mehr Themen nur noch zwei emotional aufgepeitschte Pole gibt. Diesen Kreislauf aus emotionaler Aufschaukelung kann man vielleicht durchbrechen, indem man anstatt eines “Entweder-oder” einem “Sowohl-als-auch” mehr Raum einräumt.